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Was ist das SIVUS-Konzept nicht?

Im Folgenden möchte ich auf einige Missverständnisse in der Aufnahme des SIVUS-Konzeptes eingehen.

Das SIVUS-Konzept sollte nicht als Methode der Selbsterfahrung missverstanden werden: es ist keine Methode der Selbsterfahrung. Das Konzept bietet jedoch über das Wir-Gefühl die Möglichkeit mit der gemeinsamen Planung und Auswertung von Aktivitäten dem Team und sich selbst einen Spiegel vorzuhalten. Die Aktivierung des individuellen Potentials und von Ressourcen hat eine Entwicklung zur Folge, die Wachstum ermöglicht und über das Gefühl von Selbstbestimmung und eigener Kompetenz das Erleben eines sinnvollen Seins fördert.

Der Freiraum, den das SIVUS-Konzept bietet, ist nicht gleichbedeutend mit der Abgabe jeglicher Verantwortung, die ich als Mitarbeiterin gegenüber einem begleiteten Menschen habe. Nicht ´Laissez-faire´ ist das Ziel. Das SIVUS-Konzept wird falsch verstanden, wenn das Konzept der ´Eigenverantwortlichkeit´ nicht mit einem individuellen Zugang versehen wird. Jantzen würde dieses Verständnis als Isolationsbedingung beschreiben, die geistige Behinderung stabilisiert. Ein individuelles Vorgehen bedeutet in diesem Zusammenhang, dass in einem verabredeten Zeitrahmen, in dem wiederholt eine Reflexion des Prozessverlaufes stattfindet, einer bestimmten Person ein ganz individueller Rahmen gesetzt wird, an dem sie sich orientieren kann und der ihr die Möglichkeit gibt, ein größeres Maß an Selbständigkeit zu lernen. Als begleitende Mitarbeiterin habe ich eben auch die Verantwortung für die Bereitstellung dieser Rahmenbedingungen, die die Entwicklung eines behinderten Menschen und einen Lernprozess auf dem Weg zu mehr Eigenverantwortlichkeit ermöglichen. Ich sollte ihn mittel- und langfristig bei der Rücknahme von Hilfestellungen weder überfordern noch unterfordern.

Eine Kritik aus der entgegengesetzten Richtung bezieht sich darauf, dass das SIVUS-Konzept einer Bevormundung der Bewohnerin gleichkommt. Die Mitarbeiterinnen behielten letztlich immer die Kontrolle über die Bewohnerin, dies stehe jeder Selbständigkeit und Normalität entgegen. Auch hier kann nur gesagt werden, dass zunehmende Selbständigkeit das Ziel der Begleitung ist und nicht absolut gesehen werden kann. Ebenso wie die völlige und sofortige Rücknahme von Struktur und Hilfe im Rahmen der Übergabe von Eigenverantwortlichkeit ist auch die Entwicklung von Selbständigkeit nur auf der Grundlage des individuellen Standortes und des Potentials bei den begleiteten Menschen zu beurteilen. Ein wichtige Aufgabe der Mitarbeiterinnen ist die Reflexion ihrer Tätigkeit und die Beurteilung, ob ihre Unterstützung im Lichte der Entwicklung noch angemessen oder ob sie bereits zu umfangreich ist. Vor allem für Menschen, die 10, 20, manchmal über 30 Jahre in einem engen, hospitalisierten Rahmen gelebt haben, bedeutet die unvorbereitete Überlassung in selbständigen Strukturen eine Überforderung und ein falsches Verständnis von Begleitung und Unterstützung. Diese Maßnahmen werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Entfaltung der Menschen zur Folge haben (s.o., Jantzen, 1990c).

Die gleichen Aussagen gelten für die Auffassung ”Normalisierung ist gesellschaftliche Normalität jetzt und vollständig”, weitere Erwiderungen finden sich in Aufsätzen zum Normalisierungsprinzip (Beck, 1996; Thimm, 1984).

Ein weiterer Vorwurf läßt sich in dem Satz zusammenfassen: ”SIVUS redet dem egoistischen Durchsetzen individueller Bedürfnisse und damit der Ellenbogengesellschaft das Wort”. Individuelle Bedürfnisse enden in ihrer unbeschränkten Durchsetzbarkeit dort, wo sie auf die Bedürfnisse anderer Menschen treffen. Das SIVUS-Konzept bietet genau hier Möglichkeiten, um Wünsche zu thematisieren, zu diskutieren und - bei Offenheit der Teilnehmerinnen - einer Lösung zuzuführen, mit der alle Gruppenmitglieder zumindest bis zu einer verabredeten Auswertung leben können. Insofern bietet das SIVUS-Konzept einerseits die Möglichkeit, eigene Bedürfnisse bewusst zu machen und zu vertreten. Dadurch werden sie offen und sichtbar gemacht. Damit lassen sie sich jedoch bearbeiten. Auf der anderen Seite heisst Gruppenzugehörigkeit auch die Auseinandersetzung mit den Wünschen und Bedürfnissen anderer. Das SIVUS-Konzept fördert also gleichzeitig das Zuhören und Verstehen der Bedürfnisse anderer wie auch ein Verständnis dafür, dass ein Zurückstecken eigener Bedürfnisse ein Gewinn für die Gruppe sein kann.

Es wird aus den Ausführungen deutlich, dass die Arbeit mit dem SIVUS-Konzept ungeahnte Chancen bietet, wie sie auch grundsätzlich missverstanden werden kann und Möglichkeiten zum Machtmissbrauch sowie zur Verantwortungslosigkeit auf Seiten der Mitarbeiterinnen läßt. Erst die Reflexion auf der Grundlage der aktiven Beteiligung aller Gruppenmitglieder im Rahmen regelmäßiger Auswertungsgespräche (im Team wie auch in der Bewohnerinnengruppe) bietet die Kontrolle für den konstruktiven Umgang mit den Entwicklungspotentialen.
Dokumentation dient in diesem Sinne der eigenen Kontrolle wie auch zur Wahrnehmung von Veränderung. Sie ist immer Dokumentation eines Prozesses: Wo stehe ich? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Dies bedeutet auch, dass der Frage: “Bin ich zufrieden mit dem, was ich gemacht habe oder würde ich beim nächsten Mal etwas anders machen?” eine große diagnostische Relevanz zukommt.

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